Mihai stand wie versteinert mitten in der Küche und starrte auf die Vase mit roten Rosen, die dort absolut nichts zu suchen hatten.
Ana, seine siebzehnjährige Tochter, trat in den Raum und blieb abrupt stehen, als sie ihn in diesem Zustand sah.
„Papa, was ist passiert?“
Mit zitternder Hand deutete Mihai auf den Blumenstrauß.
„Diese Rosen… sie sind identisch mit denen, die ich heute Morgen auf das Grab deiner Mutter gelegt habe. Dieselbe Vase, dasselbe Schleifenband…“
Ana trat näher an den Tisch und betrachtete die Blumen aufmerksam. Ihre großen Augen, die ihrer Mutter so ähnlich waren, füllten sich mit Verwirrung.
„Vielleicht hat uns jemand besucht und Blumen mitgebracht?“, schlug sie vor, obwohl sie wusste, dass niemand das Haus betreten hatte.
„Die Tür war abgeschlossen, als ich kam. Alle Fenster sind zu.“ Mihai fuhr sich mit der Hand durch sein vorzeitig ergrautes Haar. „Und sie sehen nicht nur ähnlich aus, Ana. Es ist genau derselbe Strauß.
Sieh,“ sagte er und zeigte auf eine der Rosen, „diese hier hat das leicht geknickte Blütenblatt, das mir schon im Blumenladen aufgefallen ist.“
Ana legte ihm die Hand auf die Schulter. „Vielleicht sollten wir nochmal zum Friedhof fahren und nachsehen.“
Die Fahrt dorthin verlief schweigend, angespannt. Mihai starrte geradeaus, seine Hände umklammerten das Lenkrad so fest, dass seine Fingerknöchel weiß wurden.
Ana sah aus dem Fenster und versuchte, eine logische Erklärung für das Geschehen zu finden.
Als sie das Grab von Elena erreichten – Mihai’s Ehefrau und Anas Mutter – verschlug es ihnen die Sprache.
Der Platz, an dem Mihai die Vase mit den Rosen am Morgen abgestellt hatte, war nun leer. Nur ein kreisrunder Abdruck im feuchten Gras zeugte davon, dass dort etwas gestanden hatte.
„Ich verstehe das nicht“, flüsterte Mihai und kniete sich neben den schwarzen Marmorgrabstein. „Wer würde so etwas tun? Und wie sind sie in unser Haus gekommen?“
Ana blickte auf das Grab ihrer Mutter und spürte einen kalten Schauer über ihren Rücken laufen. „Papa, glaubst du… Mama versucht, uns etwas zu sagen?“
Mihai schüttelte den Kopf, obwohl ihm derselbe Gedanke durch den Kopf gegangen war. Elena war vor fünf Jahren an Krebs gestorben, hatte Mihai in tiefer Trauer und Ana – damals ein zwölfjähriges Mädchen – ohne Mutter zurückgelassen.
„Die Toten kehren nicht zurück, Ana“, sagte er, doch seine Stimme zitterte.
Als sie nach Hause zurückkehrten, stand der Strauß noch immer auf dem Tisch, die Rosen wirkten frischer denn je, als würden sie im Nachmittagslicht leuchten.
Mihai untersuchte die Vase aus allen Blickwinkeln, suchte nach einem Hinweis. Es war exakt dieselbe Vase, die er am Morgen gekauft hatte – kobaltblau, mit einem feinen Muster eingravierter Blätter am Rand.
„Vielleicht sollten wir die Nachbarn fragen, ob sie jemanden gesehen haben, der ins Haus gegangen ist“, schlug Ana vor.
Doch keiner der Nachbarn hatte etwas Ungewöhnliches bemerkt. Niemand war in Abwesenheit der Familie Popescu ins Haus hinein- oder hinausgegangen.
In dieser Nacht konnte Mihai nicht schlafen. Er wälzte sich hin und her, seine Gedanken kreisten immer wieder um die geheimnisvollen Rosen.
Es war der Tag, an dem Elena 45 Jahre alt geworden wäre. Ein Zufall? Er stand auf und ging in die Küche, wo die Vase mit den Rosen noch immer auf dem Tisch stand. In der Stille der Nacht schien ihr Duft intensiver, süßer.
Er setzte sich an den Tisch und sah das Foto von Elena an, das auf dem Sideboard stand. Ihr sanftes Lächeln, ihre strahlenden Augen… fünf Jahre, und der Schmerz war immer noch nicht ganz verblasst.
„Was willst du mir sagen, Elena?“, flüsterte er in die Dunkelheit.
Ein leises Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Es kam aus Anas Zimmer. Mihai stand auf und schlich sich leise zur Tür seiner Tochter. Er hörte sie leise weinen. Er klopfte vorsichtig und trat ein.
Ana saß auf dem Bettrand und hielt etwas in den Händen.
„Was ist los, Liebling?“, fragte Mihai und setzte sich neben sie.
Ana reichte ihm, was sie hielt – ein kleines Notizbuch mit abgenutztem, rotem Einband.
„Ich habe es unter meinem Kopfkissen gefunden, als ich schlafen gehen wollte. Es ist Mamas Tagebuch.“
Mihai nahm das Büchlein mit zitternden Händen. Er hatte es seit Jahren nicht mehr gesehen. Nach Elenas Tod hatte er nicht die Kraft gehabt, zu lesen, was sie in ihren letzten Lebensmonaten geschrieben hatte.
„Es war in einer Schachtel auf dem Dachboden“, fuhr Ana fort. „Ich habe es seit Mamas Tod nicht mehr gesehen. Wie ist es unter mein Kopfkissen gekommen?“
Mihai schlug das Tagebuch auf. Elenas vertraute Handschrift schien auf den Seiten lebendig zu werden. Er blätterte zur letzten Eintragung, datiert eine Woche vor ihrem Tod:
„Meine lieben Mihai und Ana, wenn ihr diese Zeilen lest, bin ich nicht mehr bei euch – zumindest nicht körperlich. Aber ich möchte, dass ihr wisst, dass meine Seele euch niemals verlassen wird. Ihr werdet meine Nähe spüren in wichtigen Momenten, an besonderen Tagen.
Macht euch keine Sorgen um mich – es geht mir gut, dort wo ich jetzt bin. Ich möchte nur, dass ihr glücklich seid, dass ihr weiterlebt, dass ihr liebt.
Mihai, mein Geliebter, lass dich nicht von der Trauer verzehren. Pass gut auf unsere Tochter auf und – wenn die Zeit gekommen ist – öffne dein Herz erneut. Du verdienst es, glücklich zu sein.
Ana, mein Schatz, du wirst schön und stark heranwachsen. Es tut mir so leid, dass ich nicht da sein werde, um dich beim Abschluss, beim Verlieben, bei deiner Hochzeit, bei deinen eigenen Kindern zu sehen. Aber ich werde immer in deinem Herzen sein.
Ich liebe euch mehr, als Worte es ausdrücken können.
Eure für immer,
Elena“
Tränen liefen Mihai über die Wangen, während er las. Ana schmiegte sich an ihn, auch sie weinte.
„Glaubst du, Mama…“, begann sie.
„Ich weiß nicht, was ich glauben soll“, antwortete Mihai ehrlich. „Aber irgendetwas Seltsames geht hier vor.“
In den folgenden Tagen geschahen mehrere unerklärliche Dinge im Haus der Familie Popescu. Fotos von Elena, die in Kisten verstaut gewesen waren, tauchten auf Nachttischen und Schreibtischen auf.
Ein Lied – Elenas Lieblingslied – begann genau dann im Radio zu spielen, wenn Mihai oder Ana den Raum betraten. Der Duft von Elenas Parfüm schwebte manchmal durch das Haus, obwohl das Fläschchen seit Jahren leer war.
Eines Abends, eine Woche nach dem Vorfall mit den Rosen, fand Mihai einen Brief auf dem Küchentisch, den er nicht kannte. Er war an eine gewisse Dr. Rusu gerichtet, von einem experimentellen onkologischen Zentrum im Ausland.
Der Brief erwähnte eine neue Behandlungsmethode für die Krebsart, an der Elena gelitten hatte – eine Methode, die während ihrer Krankheit noch nicht verfügbar gewesen war.
„Woher kommt das?“ fragte er, als Ana die Küche betrat.
Ana sah sich den Brief an, verwirrt. „Ich weiß es nicht. Ich habe ihn vorher noch nie gesehen.“
Am selben Abend klingelte das Telefon. Es war eine alte Freundin von Elena, die sie seit der Beerdigung nicht mehr gesehen hatten.
„Mihai, du wirst es nicht glauben! Ich habe letzte Nacht von Elena geträumt. Sie hat mir gesagt, ich soll dich anrufen und dir sagen, dass es eine Ärztin namens Rusu gibt, die in einem Krebszentrum arbeitet.
Sie meinte, du solltest sie kontaktieren. Der Traum war so lebendig, ich hatte das Gefühl, Elena war direkt neben mir!“
Mihai blieb sprachlos und starrte den Brief auf dem Tisch an.
Am nächsten Tag, nach langem Zögern, rief Mihai die Nummer auf dem Brief an. Dr. Rusu existierte tatsächlich und leitete ein Forschungsprogramm zur Krebsbehandlung. Als Mihai den Namen Elena erwähnte, wirkte die Ärztin überrascht.
„Elena Popescu? Ich habe vor ein paar Tagen eine E-Mail über sie erhalten – von einer unbekannten Adresse. Sie enthielt ihre komplette Krankenakte und die Bitte, ihren Fall für unsere Forschung zu prüfen.
Das ist wirklich seltsam, denn wir untersuchen genau die Krebsart, an der Ihre Frau gelitten hat.“
Mihai legte auf und fühlte sich benommen. E-Mails aus dem Nichts, Rosen, die verschwanden und wieder auftauchten, das Tagebuch unter dem Kopfkissen …
In jener Nacht wachte er plötzlich auf. Das Zimmer war kalt, obwohl Sommer war. In der Ecke des Zimmers schien sich ein Schatten zu bewegen. Mihai setzte sich auf, sein Herz klopfte heftig.
„Elena?“ flüsterte er.
Es kam keine Antwort, aber er spürte eine sanfte Berührung auf seiner Wange, wie ein Hauch. Ihr Parfüm erfüllte für einen Moment den Raum, dann war es verschwunden.
Am nächsten Tag traf Mihai eine Entscheidung. Er ging in Anas Zimmer und fand sie lesend im Tagebuch ihrer Mutter.
„Ana, ich glaube, deine Mutter versucht, uns etwas zu sagen. Und ich glaube, ich weiß, was es ist.“
Ana sah ihn mit großen Augen an. „Was denn?“
„Dr. Rusu erforscht nicht nur die Krebsart deiner Mutter. Sie leitet auch ein Programm für Familien von Patienten, die an dieser Krankheit gelitten haben. Eine Art Selbsthilfegruppe, aber auch ein Früh-Screening-Programm für enge Verwandte. Das heißt, für dich, Ana.“
Das Mädchen wurde blass. „Glaubst du… glaubst du, ich könnte auch Krebs haben?“
Mihai setzte sich neben sie und nahm sie in den Arm. „Nein, mein Schatz. Aber es gibt eine genetische Veranlagung für diese Krebsart.
Dr. Rusu sagt, dass durch Tests und regelmäßige Kontrollen das Risiko drastisch reduziert werden kann. Ich glaube, deine Mutter versucht, dich zu beschützen – selbst jetzt noch.“
Ana blickte auf das Tagebuch in ihren Händen. „Dann ist sie also noch hier. Auf irgendeine Weise.“
„Ja“, antwortete Mihai und spürte zum ersten Mal seit fünf Jahren so etwas wie Frieden. „Ich glaube, sie war die ganze Zeit hier.“
In den folgenden Wochen besuchten Mihai und Ana das Zentrum von Dr. Rusu. Ana wurde getestet und obwohl die Ergebnisse eine leichte genetische Veranlagung zeigten, versicherte ihr die Ärztin, dass das Risiko durch regelmäßige Kontrollen gut beherrschbar sei.
Die seltsamen Phänomene im Haus hielten noch eine Weile an, wurden dann aber immer seltener. Die letzte Erscheinung ereignete sich an dem Tag, an dem Ana achtzehn wurde.
Auf dem Kuchen erschien eine Kerze mehr, als Mihai aufgestellt hatte. Und als Ana sie ausblies, schworen alle, ein leises, musikalisches Lachen zu hören – Elenas unverkennbares Lachen.
Die Rosen in der kobaltblauen Vase blieben wochenlang frisch und trotzten den Gesetzen der Natur. Als sie schließlich zu welken begannen, konservierten Mihai und Ana sie, gepresst zwischen den Seiten von Elenas Tagebuch.
In jenem Sommer, zum ersten Mal seit fünf Jahren, nahm Mihai die Einladung einer Kollegin zum Abendessen an – einer Kollegin aus der Schule, an der er unterrichtete.
Er fühlte sich zwar noch nicht bereit für eine neue Beziehung, aber es war ein Schritt nach vorn. Und als er vor dem Gehen auf Elenas Foto sah, hätte er schwören können, dass ihr Lächeln breiter und strahlender wirkte.
„Danke“, flüsterte er und berührte den Bilderrahmen. „Für alles.“
Und irgendwo, zwischen den Welten, lächelte Elena, im Wissen, dass die beiden Menschen, die sie am meisten liebte, endlich auf dem Weg der Heilung waren.
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