Dort, am Grab von Ileana, kniete mit gesenktem Kopf die Vagabundin, die er vor ein paar Tagen getroffen hatte. Sie bemerkte ihn nicht sofort, ganz vertieft in ihr Gebet.
Mihai blieb regungslos stehen und beobachtete, wie sie sorgfältig die Blumen auf dem Grab arrangierte – dieselben frischen Blumen, die er beim letzten Mal gesehen hatte.
Als das junge Mädchen aufstand und sich umdrehte, sah sie ihn. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck.
„Es tut mir leid“, flüsterte sie und wollte weglaufen.
„Warte“, hielt Mihai sie auf, indem er die Hand ausstreckte. „Bitte, lauf nicht weg. Ich möchte nur mit dir sprechen.“
Das Mädchen blieb stehen, aber ihr Körper war angespannt, jederzeit bereit zur Flucht.
„Warum kommst du zum Grab meiner Frau?“ fragte Mihai leise. „Hast du Ileana gekannt?“
Das Mädchen biss sich auf die Lippe und blickte zu Boden, als kämpfe sie mit sich selbst.
„Ich habe sie nicht gekannt“, antwortete sie schließlich. „Aber ich habe von ihr gehört.“
„Von wem?“ bohrte Mihai nach und machte einen Schritt auf sie zu.
Das Mädchen wirkte noch verängstigter, wich jedoch nicht zurück. Sie atmete tief durch, als hätte sie eine wichtige Entscheidung getroffen.
„Von meiner Großmutter. Mein Name ist Maria“, sagte sie leise. „Ileana Dragomirescu war meine Großtante.“
Mihai spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Ileana hatte keine Geschwister gehabt. Wie konnte dieses Mädchen behaupten, ihre Nichte zu sein?
„Ileana hatte keine Geschwister“, sagte er und versuchte, seine Stimme zu kontrollieren.
Maria nickte.
„Ich weiß. Meine Großmutter war ihre Halbschwester. Aus der ersten Ehe von Ileanas Vater. Niemand wusste von ihr, weil die Familie sie verheimlichte.“
Mihai spürte, wie seine Beine zitterten. Es stimmte, dass er sehr wenig über Ileanas Familie wusste. Ihre Eltern waren lange vor ihrer Begegnung bei einem Unfall gestorben, und sie war bei einer alten Tante aufgewachsen, die ebenfalls gestorben war, bevor sie heirateten.
„Warum kommst du hierher?“ fragte er und versuchte, die Information zu verarbeiten. „Und warum hast du mir nicht gesagt, wer du bist, als wir uns das erste Mal trafen?“
Maria wirkte verlegen.
„Ich hatte Angst. Meine Großmutter hat mir immer von Ileana erzählt, wie wundervoll sie war. Als sie letztes Jahr starb, fand ich unter ihren Sachen ein altes Tagebuch und ein Foto von Ileana. So habe ich herausgefunden, wo sie begraben ist.“
Sie machte eine Pause. „Ich wollte sie irgendwie kennenlernen. Eine Verbindung zu meiner verlorenen Familie spüren.“
„Und warum bist du… in dieser Lage?“ fragte Mihai und deutete vage auf ihre abgetragenen Kleider und den deutlich gewölbten Bauch.
Marias Augen füllten sich mit Tränen.
„Meine Großmutter war meine einzige Familie. Nach ihrem Tod hat mich der Vater des Kindes verlassen. Ich habe mein Zuhause, meine Arbeit, alles verloren. Ich hatte keinen Ort, wo ich hingehen konnte.“
Mihai betrachtete sie lange, suchte in ihren Zügen nach etwas, das ihn an Ileana erinnerte. Und, überraschenderweise, fand er es – dieselbe Augenform, dieselbe zarte Kieferlinie.
„Wie lautet der Geburtsname deiner Großmutter?“ fragte er plötzlich.
Maria sah ihm direkt in die Augen.
„Elena Dragomirescu, geborene Antonescu.“
Als Mihai diesen Namen hörte, wankte er. Er musste sich an einem nahegelegenen Grab abstützen, um nicht umzufallen. Antonescu.
Der Name war in einem alten Brief aufgetaucht, den er unter Ileanas Sachen nach ihrem Tod gefunden hatte – ein Brief, den er nie geöffnet hatte, weil er ihn für zu persönlich hielt.
„Ich sehe, du erkennst den Namen“, sagte Maria leise.
Mihai nickte, unfähig, einen Moment lang zu sprechen. Dann sah er sie an – dieses junge Mädchen, das einen Teil von Ileana in sich trug, von der Frau, die er mehr geliebt hatte als alles andere auf der Welt.
„Hast du heute Nacht einen Ort zum Schlafen?“ fragte er schließlich.
Maria schüttelte den Kopf.
„Normalerweise bleibe ich in einem Obdachlosenheim, aber in den letzten Nächten war es überfüllt.“
Mihai traf eine sofortige Entscheidung, die sich so natürlich anfühlte, als hätte Ileana sie ihm selbst ins Ohr geflüstert.
„Komm mit mir. Ich habe ein freies Zimmer. Du kannst dort bleiben, solange du möchtest.“
Maria sah ihn misstrauisch an.
„Warum solltest du das für mich tun? Du kennst mich doch gar nicht.“
Mihai lächelte traurig.
„Vielleicht kenne ich dich nicht, aber ich kenne das Blut, das in deinen Adern fließt. Und wenn du wirklich mit Ileana verwandt bist, dann bist du auch meine Familie.“
Auf dem Weg nach Hause redeten Mihai und Maria nur wenig. Sie erzählte ihm von ihrer Großmutter, wie sie ihr Geschichten über ihre wunderbare Halbschwester erzählte, die ein so kurzes, aber so liebevolles Leben geführt hatte.
Als sie zu Hause ankamen, zeigte Mihai Maria das Gästezimmer und bat sie, sich auszuruhen. Nachdem sie sich zurückgezogen hatte, ging er in sein Arbeitszimmer und öffnete eine Schublade, die er seit Jahren nicht mehr angerührt hatte.
Dort, zwischen alten Dokumenten und Fotos, fand er den Brief – ein vom Alter vergilbter Umschlag, adressiert an Ileana, mit dem Namen der Absenderin: Elena Antonescu.
Mit zitternden Händen öffnete Mihai den Brief und begann zu lesen. Es war ein langer Brief, voller Reue und dem Wunsch nach Versöhnung.
Elena, Ileanas Halbschwester, bat ihn um Verzeihung für die Jahre des Schweigens und erzählte ihm von ihrem Leben, von ihrer Tochter und von dem Wunsch, Ileana wiederzusehen.
Der Brief war nur eine Woche vor dem Unfall datiert, der Ileanas Leben beendet hatte. Sie hatte nie die Gelegenheit gehabt zu antworten. Oder vielleicht hatte sie den Brief gar nicht gelesen.
Tränen liefen Mihai über die Wangen. Zwanzig Jahre später fanden sich Schicksale, die sich längst hätten begegnen sollen, endlich wieder – durch eine junge Frau, die nicht nur Ileanas Blut in sich trug, sondern auch die Hoffnung auf einen neuen Anfang.
Am nächsten Morgen wachte Mihai früh auf und ging, um nachzusehen, ob es Maria gut ging. Das Gästezimmer war leer, das Bett unberührt.
Ein Schreck durchfuhr ihn bei dem Gedanken, das Mädchen könnte gegangen sein, doch dann hörte er Geräusche aus der Küche.
Dort fand er Maria, die das Frühstück zubereitete. Sie drehte sich zu ihm um und lächelte schüchtern.
„Ich hoffe, es stört dich nicht. Ich wollte mich irgendwie bei dir bedanken.“
Mihai war überrascht, wie anders das Mädchen im Morgenlicht aussah – sauber und gekleidet in die Kleidung, die er ihr gegeben hatte. Es waren alte Sachen von Ileana, die er nie hatte wegwerfen können.
„Es stört mich überhaupt nicht“, antwortete er und setzte sich an den Tisch.
Während sie aßen, zeigte Mihai Maria den Brief.
„Deine Großmutter hat kurz vor dem Unfall versucht, Ileana zu kontaktieren. Sie haben sich nie wiedersehen können.“
Maria las den Brief, Tränen liefen ihr über die Wangen.
„Meine Großmutter hat mir immer gesagt, dass sie eine große Reue in ihrem Leben hat, aber sie wollte mir nie sagen, was es war. Jetzt verstehe ich es.“
„Maria“, sagte Mihai und nahm ihre Hand, „ich möchte, dass du hierbleibst. Zumindest bis das Kind geboren ist und du wieder auf die Beine kommst. Ich denke, das ist es, was Ileana gewollt hätte.“
Maria sah ihn überrascht an.
„Warum würdest du das für mich tun? Ich bin doch nur eine Fremde.“
Mihai lächelte.
„Du bist keine Fremde. Du bist die Familie, von der ich geglaubt habe, dass ich sie nie haben würde. Und ich glaube, Ileana hat dich zu mir geschickt.
Die Träume, die ich in den letzten Nächten von ihr hatte … jetzt machen sie Sinn. Sie wollte mir von dir erzählen.“
In den folgenden Monaten wurde Maria ein Teil von Mihai Leben. Er half ihr, sich für Kurse einzuschreiben, um ihre Ausbildung abzuschließen, begleitete sie regelmäßig zu ärztlichen Untersuchungen und richtete ein Zimmer für das Baby ein, das bald kommen würde.
Als Maria ein gesundes Mädchen zur Welt brachte, war Mihai der Erste, der es nach seiner Mutter im Arm hielt.
„Ich habe sie Ileana genannt“, sagte Maria, während sie das Kind liebevoll ansah. „Damit ihr Geist weiterlebt.“
Mihai spürte, wie seine Augen feucht wurden.
„Es ist perfekt“, flüsterte er.
Jahre später gingen Mihai, Maria und die kleine Ileana gemeinsam zum Friedhof, um Blumen auf das Grab jener Frau zu legen, der es selbst aus dem Jenseits gelungen war, ihre Familie wieder zu vereinen.
Und jedes Mal, wenn die kleine Ileana lächelte, sah Mihai in ihren Augen das gleiche Leuchten, das einst seine Frau getragen hatte – als würde ein Teil ihrer Seele in diesem Kind weiterleben.
Das Leben hatte Mihai ein unerwartetes Geschenk gemacht – eine zweite Chance auf Familie, auf Liebe, darauf, für jemanden da zu sein, der ihn brauchte.
Und jeden Abend, bevor er einschlief, dankte er Ileana für dieses Geschenk, für diesen letzten Beweis ihrer ewigen Liebe.
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