„MAMA, ICH BIN UNTER DER ERDE“ – sagte ihr im Traum der seit Langem verschwundene Sohn, ein Soldat, seiner vor Schmerz gebrochenen Mutter.

Mitten in der Nacht wachte Maria Ivanova auf, die Stirn verschwitzt und das Herz heftig klopfend. Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass der Traum nicht einfach nur ein gewöhnlicher Traum gewesen war.

Alexandrus Worte hallten mit erschreckender Klarheit in ihrem Kopf wider: „MAMA, ICH BIN UNTER DER ERDE. ICH LEBE – HILF MIR.“

Maria schaltete das Licht ein und setzte sich auf die Bettkante, bemüht, ihren Atem zu beruhigen. Es war das dritte Mal in dieser Woche, dass der Traum wiederkehrte – jedes Mal intensiver, verzweifelter.

Sie hatte das Gefühl, ihr Sohn versuchte wirklich, mit ihr zu kommunizieren, ihr eine Botschaft zu senden, durch das Schweigen hindurch, das ihn offiziell umgab.

Am Morgen, mit tiefen Augenringen und dem entschlossenen Willen einer Mutter, die sich weigert, ihren Sohn aufzugeben, erschien Maria erneut beim Militärkommissariat.

Diesmal ließ sie sich nicht einschüchtern – weder von den kalten Blicken der Beamten noch von den vagen Erklärungen.

„Ich will alle Einzelheiten über das Verschwinden meines Sohnes“, sagte sie fest zu dem Offizier, der sie empfing. „Wo genau fand das Gefecht statt? Mit welcher Einheit war er unterwegs? Wer waren seine Kameraden?“

„Frau Andreescu, ich verstehe Ihren Schmerz, aber…“

„Nein, Sie verstehen nicht“, unterbrach ihn Maria. „Wenn Sie es verstünden, würden Sie mir alles sagen, was Sie wissen. Mein Sohn lebt. Ich spüre es. Und er braucht Hilfe.“

Der Offizier sah sie lange an, dann seufzte er tief.

„Was lässt Sie das glauben? Es sind sechs Monate vergangen. Wir haben keinerlei Hinweise gefunden, dass…“

„Ich habe ihn geträumt“, sagte Maria schlicht. „Er sagt, er sei unter der Erde und lebt.“

Der Offizier tauschte einen Blick mit seinem Kollegen – genau dieser Blick, den Maria in den letzten Monaten viel zu oft gesehen hatte: eine Mischung aus Mitleid und Sorge um ihren Geisteszustand.

„Bitte, geben Sie mir wenigstens den Namen seines Kommandeurs oder eines Kameraden, der an dem Tag bei ihm war.“

Nach langem Zögern und mehreren Telefonaten gab der Offizier ihr schließlich einen Namen und eine Telefonnummer: Hauptmann Victor Manea, der Kommandeur der Einheit, in der Alexandru gedient hatte.

Die Reise in den Donbas schien endlos. Aus dem Zugfenster sah Maria, wie sich die friedliche Landschaft des Landes allmählich veränderte – karger wurde, gezeichnet vom Krieg.

Sie wusste nicht genau, was sie dort tun würde, aber das Gefühl, dass ihr Sohn irgendwo noch lebte – vielleicht gefangen –, trieb sie voran.

Hauptmann Manea erwartete sie am Bahnhof, ein Mann in den Vierzigern, mit einem vom Kummer gezeichneten Gesicht und dem Blick eines Mannes, der zu viel gesehen hatte. Nachdem sie sich vorgestellt hatten, führte er sie in ein nahegelegenes Café.

„Frau Andreescu, ich habe mit den Soldaten gesprochen, die an dieser Mission beteiligt waren“, begann er, nachdem ihnen zwei Kaffees serviert worden waren. „Alexandru war in einem Panzer, der bei einem Hinterhalt getroffen wurde.

Das Fahrzeug kam von der Straße ab und stürzte in eine Schlucht. Als das Rettungsteam eintraf, stand der Panzer in Flammen. Es wurden keine Überlebenden gefunden.“

„Aber haben Sie ihn identifiziert? Haben Sie… seine Überreste gefunden?“, fragte Maria und umklammerte die Kaffeetasse so fest, dass ihre Finger weiß wurden.

Der Hauptmann wich ihrem Blick aus.

„Wir konnten keine identifizierbaren Überreste von einem der vier Besatzungsmitglieder finden. Das Feuer war sehr heftig.“

Maria schloss für einen Moment die Augen, um die Information zu verarbeiten.

„In meinem Traum sagt Alexandru, dass er unter der Erde ist. Nicht in einem verbrannten Panzer. Unter der Erde. Lebendig.“

Hauptmann Manea sah sie lange an – und überraschenderweise wies er ihre Idee nicht sofort zurück.

„Das Gebiet, in dem der Hinterhalt stattfand, ist voller alter Minen, verlassener Tunnel. Überbleibsel aus früheren Zeiten. Wir haben das Gebiet überprüft. Nichts gefunden.“

„Ich will den Ort sehen“, sagte Maria.

„Es ist zu gefährlich. Das Gebiet ist noch umkämpft, gnädige Frau. Ich kann Ihr Leben nicht aufs Spiel setzen.“

„Ich bitte nicht um Erlaubnis, Hauptmann. Ich bitte um Ihre Hilfe. Wenn Sie mir nicht helfen wollen, finde ich jemanden, der es tut.“

Am nächsten Tag, entgegen seinem besseren Wissen und gegen militärische Vorschriften, brachte Hauptmann Manea Maria so nah wie möglich an den Ort des Vorfalls.

Mit einem gepanzerten Fahrzeug fuhren sie in ein teilweise verlassenes Dorf, wenige Kilometer von der Frontlinie entfernt.

„Weiter können wir nicht mit dem Fahrzeug“, erklärte er. „Und ehrlich gesagt sollten wir überhaupt nicht hier sein.“

Maria stieg aus, sofort spürte sie die schwere Luft, durchzogen von Staub, einem schwachen Rauchgeruch und feuchter Erde. Am Dorfrand saß eine alte Frau auf einer Bank, den Blick ins Leere gerichtet. Maria näherte sich ihr, während der Hauptmann funkte.

„Guten Tag“, begrüßte sie die Frau. „Leben Sie schon lange hier?“

Die alte Frau sah sie mit wässrigen, aber lebendigen Augen an.

„Mein ganzes Leben, Kind. Und ich gehe nirgendwohin, egal wie viele Bomben fallen.“

Maria holte ein Foto von Alexandru aus der Tasche und zeigte es ihr.

„Haben Sie diesen jungen Mann vielleicht gesehen? Es ist mein Sohn. Er ist hier in der Nähe vor sechs Monaten verschwunden.“

Die Alte nahm das Foto, betrachtete es lange und schüttelte dann den Kopf.

„Nein, ich habe ihn nicht gesehen. Aber weißt du…“ – sie zögerte, blickte zum Hauptmann, der nun auf sie zukam – „unter dem Hügel da drüben gibt es alte Orte.

Tunnel aus der Kriegszeit. Als Kinder haben wir dort gespielt. Heute geht niemand mehr hin. Man sagt, es spukt dort.“

Ein kalter Schauer lief Maria den Rücken hinunter.

„Was für Tunnel?“

„Luftschutzbunker, Lager – wer weiß das schon? Der Haupteingang ist vor vielen Jahren eingestürzt, aber es gibt noch einen Zugang, versteckt im Wäldchen hinter dem alten Friedhof.“

Der Hauptmann trat zu ihnen und verkündete, dass sie dringend aufbrechen müssten. Die Lage an der Front habe sich verschärft, und ihre Anwesenheit sei zunehmend riskant.

Maria dankte der alten Frau und gab ihr ihre Telefonnummer, mit der Bitte, sich zu melden, falls ihr etwas einfalle oder sie etwas Ungewöhnliches sehe.

Auf dem Weg zum Fahrzeug erzählte Maria dem Hauptmann von den Tunnelgeschichten der Alten.

„Wussten Sie davon?“

„Das sind lokale Legenden, gnädige Frau. Die ganze Gegend ist voller Geschichten über geheime Tunnel und Katakomben. Wir haben jede glaubhafte Information geprüft. Nichts gefunden.“

Aber sein Blick wich erneut dem ihren aus – und Maria spürte, dass er ihr nicht die ganze Wahrheit sagte.

In jener Nacht, im bescheidenen Hotel der nahegelegenen Stadt, in dem sie abgestiegen war, hatte Maria erneut den Traum. Dieses Mal jedoch war er klarer – detaillierter.

Alexandru sagte ihr nicht nur, dass er unter der Erde und am Leben sei; er beschrieb auch einen Ort – dunkle Tunnel, Feuchtigkeit, ein Geruch von Schimmel und Metall. Und er erwähnte etwas von einem alten steinernen Kreuz am Eingang.

Das steinerne Kreuz! Der alte Friedhof, von dem die alte Frau gesprochen hatte!

Ohne zu zögern nahm Maria im Morgengrauen ein Taxi und kehrte in das halb verlassene Dorf zurück. Die Warnungen des Fahrers über die Gefahren der Gegend ignorierend, machte sie sich entschlossen auf den Weg zu dem alten Friedhof, der auf einem sanften Hügel am Waldrand lag.

Der Friedhof befand sich in einem fortgeschrittenen Zustand des Verfalls, mit umgestürzten Grabsteinen und Gräbern, die von Unkraut überwuchert waren. In der Mitte stand ein großes steinernes Kreuz, vom Wetter gezeichnet, mit kaum noch lesbaren Inschriften.

Maria begann, die Umgebung des Kreuzes abzusuchen, auf der Suche nach einem Hinweis auf einen Zugang in die Tiefe.

Nach fast einer Stunde vergeblicher Suche, kurz bevor sie aufgeben wollte, entdeckte sie eine Steinplatte, die teilweise von Pflanzen überwuchert war, ein paar Meter vom Kreuz entfernt.

Mit klopfendem Herzen entfernte Maria die Vegetation und stellte fest, dass die Platte eine enge Öffnung verbarg, gerade groß genug, dass sich ein Mensch hindurchzwängen konnte. Ein kalter Luftzug und der Geruch von Feuchtigkeit kamen aus der Tiefe.

Ohne lange zu überlegen, holte Maria ihre Taschenlampe aus der Tasche und bereitete sich darauf vor, hinunterzusteigen. In diesem Moment hörte sie Schritte hinter sich.

„Ich hätte wissen müssen, dass Sie das versuchen würden“, sagte Hauptmann Manea und trat zwischen den Gräbern hervor. „Es ist zu gefährlich, dort unten allein hinzugehen.“

„Sie kannten diesen Eingang?“, fragte Maria, während Zorn ihr das Gesicht rötete.

„Ich habe Gerüchte gehört, aber niemand konnte mir den genauen Ort sagen“, antwortete er und wich erneut ihrem Blick aus. „Außerdem habe ich andere Tunnel in der Gegend untersucht. Sie sind alt, instabil, voller Ratten und …“

„Mein Sohn ist dort unten“, unterbrach ihn Maria. „Ich fühle es. Wenn Sie mir nicht helfen wollen, dann halten Sie mich wenigstens nicht auf.“

Der Hauptmann sah sie lange an und seufzte dann tief.

„In Ordnung. Aber wir gehen nicht allein. Ich habe zwei erfahrene Soldaten mitgebracht, die auf solche Operationen spezialisiert sind. Und die passende Ausrüstung.“

Die Tunnel waren genau so, wie Maria sie in ihrem Traum gesehen hatte – dunkel, feucht, mit bröckelnden Betonwänden und verrosteten Metallvorrichtungen. Sie verzweigten sich in viele Richtungen und bildeten ein wahres Labyrinth unter der Erde.

Das Team bewegte sich langsam vorwärts, markierte den Weg, um den Rückweg zu finden. Nach etwa einer Stunde erreichten sie einen größeren Raum, der einst wohl ein Kommandoposten oder ein Luftschutzbunker gewesen war.

„Wir haben die bekannten Tunnel in der Gegend überprüft“, sagte der Hauptmann, während er den Raum mit seiner starken Taschenlampe absuchte, „aber von diesem Netzwerk wussten wir nichts. Es ist größer als gedacht.“

Einer der Soldaten entdeckte frische Spuren im Staub auf dem Boden – Zeichen, dass hier in den letzten Monaten jemand gewesen war.

„Siehst du?“, sagte Maria, Hoffnung stieg in ihr auf. „Jemand war hier!“

„Es könnte jeder gewesen sein“, antwortete der Hauptmann, doch seine Stimme verriet Unsicherheit. „Vielleicht Einheimische, vielleicht Soldaten …“

Ein leises Geräusch ließ alle erstarren. Es kam aus einem schmalen Seitentunnel, den sie zunächst übersehen hatten.

„Alexandru?“, rief Maria, ohne auf die Zeichen der Soldaten zu achten, still zu bleiben. „Alexandru, bist du da?“

Stille. Dann, kaum hörbar, eine schwache Antwort:

„Mama?“

Sie fanden ihn in einem kleinen Raum, der wohl einmal ein Lager gewesen war. Alexandru war abgemagert, schmutzig, mit langem Bart und zerrissener Kleidung – aber er lebte. Neben ihm ein weiterer Überlebender – Mihai, einer seiner Kameraden aus dem Panzer.

Ihre Geschichte war unglaublich. Während des Hinterhalts hatten es die beiden geschafft, den Panzer zu verlassen, bevor er völlig in Flammen aufging.

Sie irrten durch das Kampfgebiet, versuchten der Gefangennahme zu entgehen, und entdeckten zufällig den Eingang zu den Tunneln. Doch ein Erdrutsch, ausgelöst durch Explosionen, hatte den Eingang hinter ihnen verschüttet und sie gefangen.

Sie überlebten zunächst mit Notrationen, die sie bei sich hatten, dann mit allem, was sie finden konnten – Ratten, Insekten, Wasser, das durch die Wände sickerte. Sie waren geschwächt, dehydriert – aber am Leben.

„Wir haben alle Tunnel, alle möglichen Ausgänge ausprobiert“, erklärte Alexandru, während er beim Aufstieg an die Oberfläche gestützt wurde. „Aber alle waren blockiert oder führten in feindlich kontrollierte Gebiete. Und dann, als wir fast aufgeben wollten …“

„Hast du mir begonnen, Nachrichten im Traum zu senden“, ergänzte Maria, hielt seine Hand fest, als fürchte sie, er könnte erneut verschwinden.

Alexandru sah sie seltsam an.

„Ich weiß nicht, ob ich das bewusst getan habe, Mama. Aber jede Nacht schlief ich mit dem Gedanken an dich ein, stellte mir vor, dir zu sagen, wo ich bin, dich zu bitten, mich zu finden.“

Ein Jahr später war Alexandru körperlich völlig genesen, auch wenn ihn die Albträume und Erinnerungen noch verfolgten. Er saß in der Küche der Wohnung seiner Mutter und blickte aus dem Fenster, wie die Herbstblätter im Wind tanzten.

„Ich frage mich immer noch, woher du das wusstest“, sagte er, drehte sich zu Maria um, die Tee zubereitete. „Woher wusstest du, dass ich dort unten war, als alle dachten, wir seien tot?“

Maria lächelte – jenes sanfte, geheimnisvolle Lächeln, das er kannte, seit er denken konnte.

„Es gibt Verbindungen zwischen Müttern und ihren Söhnen, die über jede rationale Erklärung hinausgehen, Alexandru. In jeder Nacht, in der du an mich gedacht hast, habe ich dich gehört. Ich habe dich gespürt. Und ich wusste, dass ich dich finden muss.“

Alexandru umarmte sie fest, spürte zum ersten Mal seit seiner Rückkehr, dass er wirklich zu Hause war.

„Danke, dass du nie aufgegeben hast, Mama.“

„Eine Mutter gibt niemals auf“, flüsterte sie und strich ihm durchs Haar, wie damals, als er noch klein war. „Niemals.“

Draußen tanzten die Herbstblätter weiter im Wind, und irgendwo in der Ferne blieben die dunklen Tunnel still – und bewahrten ihre Geheimnisse für immer.