Als die Mutter starb, räumte der Vater alle ihre Fotos weg.
Er konnte es nicht ertragen, wie der siebenjährige Maxim vor den erstarrten Lächeln verharrte, wie seine Unterlippe zu zittern begann und stumme, bittere Tränen über seine Wangen liefen.

Der Junge wusste bereits, dass „Männer nicht weinen“.
Doch sein Herz war wie in Scherben zerbrochen, und jedes Mal, wenn er sich an ihre Stimme, ihren Blick oder ihre Wärme erinnerte, bohrten sich diese Splitter schmerzhaft in ihn hinein.
Ein Jahr später verblassten die Erinnerungen.
Das Gesicht der Mutter verschwamm im Gedächtnis, wurde zu einem unscharfen Lichtfleck.
Manchmal erschien es ihm im Traum – so lebendig und wirklich, dass Maxim nach dem Erwachen noch ein paar Sekunden lang die Wärme neben dem Kopfkissen spürte.
Doch bald löste sich das Bild auf, und nur das kalte Morgenlicht blieb, zusammen mit einer nagenden, unerträglichen Leere.
Dann kauerte er sich in den Sessel, hielt das kleine Kreuz seiner Mutter an einer dünnen Kette in der Hand – das Einzige, was von ihr geblieben war – und flüsterte in die Stille: „Mama, komm zurück! Bitte, geh nicht für immer!“
Aber die Stille schwieg.
Eines Abends, während der Vater zerstreut die Post durchsah und den Blick an ihm vorbeigleiten ließ, sagte er:
— Maxim, mir steht eine lange Dienstreise bevor. Den ganzen Sommer. Du fährst zu deiner Tante. Aufs Dorf.
Über die Tante wusste Maxim fast nichts.
Einmal im Jahr, zu seinem Geburtstag oder zu Neujahr, kam ein Paket.
Auf der schlichten Pappschachtel stand in sorgfältiger, fast kalligrafischer Schrift: „Jegorowa Tatjana Matwejewna. Dorf Alexandrowka“.
Daraus strömte der Geruch von getrockneten Äpfeln, Zwiebeln und etwas anderem – hölzernem, Fremdem.
Die Fahrt nach Alexandrowka dauerte zwei Stunden.
Der Vater, sonst schweigsam und in sich gekehrt, redete diesmal ununterbrochen.
Er erzählte von seiner Kindheit, davon, wie er in eben diesem Dorf aufgewachsen war, wie sie nach dem Tod der Großmutter mit dreizehn in die Stadt zogen.
— Ich habe damals geheult wie ein Schlosshund, — erinnerte er sich mit angespannter Miene, während er immer wieder auf sein Handy sah.
— Ich wollte nicht weg. Dort blieben Freunde… und ein Mädchen. Katja. Rothaarig, voller Sommersprossen.
Ich habe sogar versucht abzuhauen. Ich kannte den Fahrpreis, stahl Geld von meinen Eltern und ging zum Busbahnhof.
Aber die Kassiererin verkaufte einem Kind kein Ticket, rief die Polizei. Man brachte mich zurück.
Ich rechnete mit Schlägen, aber mein Vater… also dein Opa… legte mir nur die Hand auf die Schulter und sagte, dass ich ein richtiger Mann sei, mit einem Herzen am rechten Fleck.
Danach kehrte ich nie mehr dorthin zurück.
Und dann traf ich deine Mutter, und die Vergangenheit löste sich auf.
Maxim hörte schweigend zu.
Mit jedem Kilometer schnürte sich in seiner Brust die Angst fester zusammen.
Er war noch nie im Dorf gewesen, hatte nie mit fremden Menschen zusammengelebt.
Aber am meisten beunruhigte ihn etwas anderes – die unnatürliche Geschwätzigkeit des Vaters.
Nach dem Tod der Mutter war er so still geworden wie ein Fels.
Und nun sprudelten die Worte endlos aus ihm heraus, als hätte er Angst, dass in der Stille Fragen auftauchen würden, auf die er keine Antworten wusste.
Tante Tanja ähnelte dem Vater erstaunlich stark.
Genauso drahtig, mit geradem Rücken und kurzem, strohblondem Haar.
Sie empfing sie an der Tür des alten, aber stabilen Blockhauses, die Arme verschränkt vor der Brust.
Ihr Blick, kühl und prüfend, glitt von oben bis unten über Maxim.
— Na, komm rein, — brummte sie, ließ sie eintreten, wo es nach frischer Milch und Wiesenkräutern roch. — Wollt ihr essen?
Sie servierte ihnen dicken, kräftigen Borschtsch und goldbraune Piroggen.
Die Füllung war mit Kartoffeln, und manche – mit Ei und Zwiebeln.
Maxim konnte Eier nicht ausstehen, ihr Geruch drehte ihm den Magen um.
Doch, errötend und aus Angst, unhöflich zu wirken, würgte er schweigend daran herum, versuchte heimlich, die Füllung mit der Gabel herauszukratzen und unter den Tisch fallen zu lassen.
Verzweifelt hoffte er, dass es eine Katze gäbe, die seine kleine Schwindelei unsichtbar machen würde.
Aber schon nach drei Tagen war klar: Es gab keine Katze.
Er durchsuchte Haus und Schuppen, fand aber nichts.
Fragen traute er sich nicht.
Die Tante behandelte ihn distanziert, fast frostig, als wäre er kein lebendiges Kind, sondern eine lästige Kiste, die man ihr zur Aufbewahrung hingestellt hatte.
Manchmal, besonders abends, wenn die Sehnsucht nach Zuhause und nach der Mutter unerträglich wurde, überkam ihn der Wunsch, diese trockene, kantige Frau zu umarmen.
Die Augen zu schließen und sich vorzustellen, sie wäre seine Mama.
Doch von ihr roch es nach Rauch, Kienspänen und bitterem Kraut – nicht nach Parfüm und süßem Kuchen.
Eines Nachts hatte er einen Alptraum, lief weinend in ihr Zimmer.
Tatjana Matwejewna tröstete ihn nicht.
Streng befahl sie, ins Bett zurückzukehren und mit dem „Gejammer“ aufzuhören, denn Hexen gäbe es nicht.
Er kehrte zurück, verkroch sich unter die Decke, drückte fest das Kreuz der Mutter in seiner Hand und flüsterte, bis die Tränen versiegten und der Schlaf kam: „Mama ist bei mir, Mama beschützt mich“.
Es schien, als sei die Tante immer unzufrieden mit ihm.
— Was soll das für eine Show sein? — fragte sie scharf, als sie ihn wieder beim Herumpulen im Pirogg sah.
Maxims Herz rutschte in die Hose.
Mit aller Kraft sammelte er Mut und stotterte:
— Ich… ich esse keine Eier.
— Wieso das?
— Sie stinken, — gestand er ehrlich.
Die Tante schüttelte den Kopf, ihre schmalen Lippen pressten sich zusammen.
— Unsinn. Eier sind gesund. Eiweiß, Vitamine. Iss.
Maxim senkte den Kopf, während die Tränen gefährlich nahe kamen.
Nur nicht anfangen zu weinen.
Nur nicht wieder als Memme bezeichnet werden.
Es gab für ihn rein gar nichts zu tun.
Die kleinen Bücher, die der Vater mitgegeben hatte, las er in zwei Tagen – sie waren zu kindisch.
Die Tante, die seine Langeweile bemerkte, schlug vor, mit den Dorfjungen Bekanntschaft zu machen.
Doch das endete mit einer Prügelei.
Der kräftigste von ihnen wollte Maxims Handy „nur kurz ausleihen“, und als er ablehnte, wollte er es ihm mit Gewalt entreißen.
Danach wollte Maxim keinen Kontakt mehr.
— Ein Eigenbrötler, genau wie dein Vater, — knurrte die Tante, als sie sein blutiges, aufgeschlagenes Knie sah. — Immer hat er sich als Kind gestritten.
— Ich bin kein Eigenbrötler! — fuhr Maxim auf. — Der andere hat sich schlecht benommen!
— Und du etwa besser? — spottete sie. — Ein Telefon ist nur ein Stück Eisen. Man muss teilen können. Geh und entschuldige dich.
— Ich gehe nicht!
— Ich sagte, entschuldige dich!
Diesmal weinte er nicht.
Er spürte glühende, wütende Zorn in sich.
Jetzt verstand er, warum diese Frau allein lebte.
Wer könnte so eine griesgrämige Person lieben? Nicht einmal eine Katze hielt sie!
Krampfhaft umschloss er in der Tasche das Kreuz, und augenblicklich kam ein merkwürdiger Frieden über ihn.
Am Abend desselben Tages sagte die Tante unerwartet:
— Die Bücher in den unteren Regalen kannst du nehmen. Da ist sicher etwas Anspruchsvolleres als deine Comics.
Maxim hatte den alten Schrank schon lange mit Blicken gestreift, aber nie gewagt, heranzugehen.
Einmal hatte er nach einem ledernen Band mit Goldprägung gegriffen, und die Tante hatte so laut geschrien, dass er vor Schreck verstummte.
Nun aber, mit der Erlaubnis, stürzte er sich voller Freude auf die Regale.
Seine Augen blieben an einem dünnen, abgegriffenen Bändchen hängen: „Der Löwe, die Hexe und der Kleiderschrank“.
Er verschlang es in einer Nacht.
Die zauberhafte Welt von Narnia nahm ihn völlig gefangen, und zum ersten Mal seit vielen Monaten war in seiner Seele kein Platz mehr für Tränen.
— Tante Tanja, gibt es einen zweiten Teil? — fragte er hoffnungsvoll am nächsten Morgen.
Sie warf einen kurzen Blick auf den Einband.
— Vermutlich müsste es einen geben.
— Und wo steht er? Auf welchem Regal soll ich suchen?
— Den habe ich nicht, — erwiderte sie schroff.
Maxim stieß einen lauten Seufzer aus.
— Hör auf zu seufzen wie eine Lokomotive! Nimm dir ein anderes Buch.
Ohne weiter zu bitten, griff er zu den „Drei Musketieren“, doch die Lektüre erschien ihm langweilig, und er ging hinaus.
Auf der Veranda erwartete ihn eine unerwartete Überraschung. Dort kauerte ein riesiger, heruntergekommener Kater.
Sein eines Auge war von einem Schleier überzogen, das Fell verfilzt, und das Ohr zerfetzt.
Und dennoch lag in seiner Haltung eine solche Würde, dass Maxim ihn sofort ins Herz schloss.
Er streckte die Hand aus, und der Kater, das einzige Auge halb geschlossen, erlaubte sich gnädig streicheln zu lassen, wobei er ein raues, kratziges Schnurren von sich gab.
— Du hast sicher Hunger, oder? — flüsterte der Junge.
Der Kater drückte seine feuchte Nase in die Handfläche.
— Warte, ich hole dir etwas.
Maxim lief zu seiner Tante.
— Darf ich ein wenig Milch? Oder ein Stück Wurst?
— Wozu brauchst du das? — fragte Tatjana Matwejewna misstrauisch.
— Um den Kater zu füttern. Er sitzt auf der Veranda, ganz abgemagert, der Arme.
Die Tante trat hinaus, sah das Tier und verzog angewidert das Gesicht.
— Ein streuniger Lump. Voller Krusten. Noch bringt er uns Krankheiten ins Haus! Verschwinde!
Sie machte eine schnelle Bewegung mit dem Fuß, traf ihn nicht, doch ihre Absicht war klar.
Der Kater fauchte verächtlich und zog sich mit Würde in die Büsche zurück.
Maxim begriff, dass er ihn von nun an heimlich versorgen musste.
Beim nächsten Mal brachte er ihm ein Stück gekochtes Huhn vom Abendessen.
Der Kater verschlang es und ließ sich hinter dem verbliebenen Ohr kraulen.
— Ich werde dich Admiral nennen, — beschloss Maxim.
Von da an hatte er einen Gefährten.
Stundenlang saß er mit ihm draußen auf dem alten Baumstumpf hinter dem Garten, erzählte von seinen Büchern, vertraute ihm Ängste und Zweifel an, fragte um Rat, wie er den Vater überreden könnte, den Admiral mit in die Stadt zu nehmen.
Er war vorsichtig, und die Tante erwischte ihn nie dabei.
Einige Wochen später, als er nach neuem Lesestoff stöberte, stieß Maxim auf einen Stapel Bände von Clive Lewis: „Prinz Kaspian“, „Die Reise auf der Morgenröte“…
Vor Freude hätte er beinahe einen Sprung gemacht.
— Tante! Das ist doch die Fortsetzung! — rief er und stürmte mit den Büchern in die Küche.
Tatjana Matwejewna zuckte gleichgültig mit den Schultern, während sie die Marmelade rührte.
— Ja. Wolltest du sie nicht haben? Ich habe sie bestellt, gestern sind sie gekommen.
Glücklich umarmte Maxim sie um die Taille, schmiegte die Wange an ihre raue Leinenschürze.
— Danke! Du bist die Beste!
Die Tante erstarrte, als hätte sie ein Stromschlag getroffen.
Dann riss sie sich hastig los, trat zurück, als hätte sie sich verbrannt.
Ihr Gesicht versteinerte.
— Rühr mich nicht an! Geh lesen.
Sie blieb ein Rätsel.
Völlig vertieft in die neuen Bücher, vergaß Maxim für ein paar Tage den Admiral.
Doch er erinnerte sich, als ein kalter, endloser Regen einsetzte.
„Armer Admiral, — dachte er traurig. — Er wird durchnässt und erkältet sich.“
Und fast zur Bestätigung hörte er von der Veranda ein klägliches, langgezogenes Miauen.
— Tante Tanja, dürfen wir ihn hereinlassen? Wenigstens in den Flur? Bitte! Er friert doch!
Er rechnete schon mit einer harschen Abweisung.
Doch sie seufzte schwer, ohne ihn anzusehen.
— Von mir aus. Aber achte darauf, dass er nicht überall herumläuft. Und heul nicht, wenn er verreckt.
Maxim spürte, wie ihm die Haut fröstelte.
Die Worte klangen wie ein böses Omen.
Aber die Tür war offen.
Admiral, völlig durchnässt, huschte hinein und rollte sich auf der Fußmatte zusammen.
Von diesem Tag an lebte er im Haus — wie ein geheimer, aber geduldeter Mitbewohner.
Er benahm sich erstaunlich gesittet: sprang nicht auf den Tisch, zerkratzte keine Möbel, saß still zu Füßen des Jungen oder wärmte sich am Ofen.
Maxim bemerkte eine Merkwürdigkeit — die Piroggen waren nur noch mit Kartoffeln, ohne Eier.
Die Tante brummte, warf dem Kater finstere Blicke zu, doch Maxim war glücklich.
Eines Tages wurde er Zeuge einer überraschenden Szene: Tatjana Matwejewna, in dem Glauben, unbeobachtet zu sein, brach ein Stück Wurst vom Brot ab und warf es dem Kater zu.
— Na, du Vielfraß, — murmelte sie und strich ihm sogar flüchtig über den Rücken.
Gerade deshalb traf das, was bald geschah, Maxim wie ein Schlag.
Einige Tage später war Admiral verschwunden.
Der Junge suchte überall, rief, blickte in jede Ecke.
Am Abend fand er ihn hinter dem Badehaus — reglos und kalt.
Ein Gedanke blitzte auf: „Sie hat ihn vergiftet! Sie hat es doch angekündigt!“
Tränen brachen hervor, heiß, voller Wut, ohne Ende.
— Das warst du! Du hast ihn getötet! — schrie er, stürmte ins Haus und zeigte mit dem Finger auf das steinerne Gesicht der Tante. — Ich hasse dich!
Er rechnete mit Geschrei, einem Schlag oder einem strengen Befehl.
Doch sie sah ihn nur lange an, mit einem müden Blick voller uralter, hoffnungsloser Traurigkeit.
— Ich habe dich gewarnt, — sagte sie leise und tonlos.
Dann zog sie den wattierten Rock an, nahm eine Schaufel und ging hinaus.
Maxim, weinend, folgte ihr.
Er verstand ihre Absicht, als er sah, dass sie am Gemüsegarten neben den Himbeersträuchern ein Grab aushob.
Er rannte ins Haus, holte einen stabilen Karton und bettete seinen Freund vorsichtig hinein.
Sie bestatteten Admiral schweigend.
Die Tante brachte eine flache Steinplatte und stellte sie ans Kopfende.
Maxim pflückte die späten Herbstblumen — Astern und Studentenblumen.
Da bemerkte er daneben weitere ordentlich aufgestellte Steine.
— Was ist das? — flüsterte er erschrocken.
— Gräber, — erwiderte sie kurz.
— Von wem?
— Von denen, die ich geliebt habe.
Maxim stockte der Atem.
Er wollte aufschreien: „Also hast du sie wirklich alle umgebracht?!“ Doch die Worte blieben stecken.
Die Tante setzte sich auf einen moosbewachsenen Stein und vergrub das Gesicht in den Händen.
Als sie sprach, klang ihre Stimme dumpf, gebrochen, wie aus der Tiefe der Erde.
— Ich war sechzehn. Dumm, boshaft und ohne Gedanken an Folgen. In unserer Klasse war ein Mädchen, Polina.
Alle verspotteten sie, nannten sie Irre. Und sie war tatsächlich… anders.
Aber sie hatte einen Bruder, Gennadi. Er ging nicht zur Schule, war krank, immer zu Hause.
Ständig hing er mir nach, murmelte etwas. Ich empfand Ekel und Angst.
Eines Tages verlor ich die Beherrschung, drehte mich um und überschüttete ihn mit den schmutzigsten Beschimpfungen.
Ich erinnere mich nicht mehr, was genau ich sagte. Doch es war furchtbar.
— Eine Woche später ertrank er.
Polina erklärte, dass ich daran schuld sei.
Dass ich ihn verhext hätte.
Und dass ihre Großmutter, die alle für eine Hexe hielten, mich mit einem Fluch belegt habe.
Dass jeder, den ich lieben würde, sterben müsse.
Natürlich hielt ich sie für verrückt.
Wir gerieten in einen heftigen Streit… ich habe in meinem ganzen Leben nie wieder mit jemandem gekämpft.
Maxim hörte zu, ohne auch nur zu atmen.
Eiskalte Schauer liefen ihm über den Rücken.
— Und? — flüsterte er. — Ist das… wahr?
— Ja, — antwortete die Tante ebenso leise und starrte ins Leere. — Dort liegt Mirka, mein Hund.
Hier ruht mein Kater Musketier.
Und hier… — ihre Stimme zitterte, — mein kleines Mädchen.
Alissa.
Sie wurde nicht einmal ein Jahr alt.
Die Ärzte meinten, es sei das Herz gewesen.
Ein tragischer Zufall.
Aber ich weiß es besser.
Sie hob den Blick zu Maxim, ihre Augen voller Tränen, und in ihnen lag ein bodenloser Schmerz, dass ihm schwindelig wurde.
— Ihre Großmutter galt als Hexe.
Ich wollte es nicht glauben.
Doch jetzt glaube ich daran.
Und ich bereue es.
Ich bereue jede einzelne Sekunde.
Wenn ich nur alles zurückdrehen könnte…
— Du hättest sie einfach um Verzeihung bitten müssen! — platzte es aus Maxim heraus. — Du hast mir doch selbst gesagt, dass man sich entschuldigen soll!
— Ja, — sie lächelte bitter. — Du hast recht.
Aber ein schlichtes „Entschuldigung“ reicht hier nicht aus.
Es braucht ein Opfer.
Etwas von größter Bedeutung.
Und das konnte ich nicht tun.
Sie starb drei Jahre später.
An einer Lungenentzündung.
Sie lebten in Armut und Kälte, niemand konnte ihnen helfen…
Plötzlich stand sie auf, wischte den Staub vom Rock und ging ohne sich umzudrehen in Richtung Haus, ließ Maxim allein zurück zwischen den schweigsamen Steinen und dem Flüstern des Herbstwindes.
Am nächsten Tag geschah ein Wunder — ganz unerwartet kam der Vater.
— Na, mein Junge, hast du mich vermisst? Pack deine Sachen, wir fahren nach Hause!
Maxim war so glücklich, dass er die Tante und ihre unheimliche Geschichte eine Weile völlig vergaß.
Erst als das Auto beladen war und der Abschied nahte, spürte er, wie ein harter Kloß ihm im Hals stecken blieb.
Unsicher trat er auf Tatjana Matwejewna zu, ohne zu wissen, was er sagen sollte.
Doch sie ging selbst einen Schritt auf ihn zu, umarmte ihn so fest, dass seine Knochen knackten, und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
— Danke, dass du bei mir zu Gast warst, — flüsterte sie ihm ins Ohr, und ihre Stimme klang zum ersten Mal warm und sanft. — Pass gut auf dich auf.
Der Vater war unterwegs merkwürdig aufgekratzt und zugleich angespannt.
Er sang laut zu den Radiosongs und fragte unablässig, wie Maxim den Sommer verbracht hatte.
— Wir fahren noch zum Friedhof, — schlug er plötzlich vor und bog auf eine vertraute Straße ab.
— Wozu? — wunderte sich der Junge.
— Dort ist mein Bruder begraben.
Und dein… Cousinchen.
Du hast ihn nicht gekannt, er starb als Säugling.
Mein Bruder Sascha kam später bei der Jagd ums Leben.
Das Gewehr versagte.
Ich bin selten hier, man muss die Gräber besuchen.
Maxim stockte der Atem.
Alles wurde ihm klar.
Tante Tanja war nicht die Schwester seines Vaters.
Sie war die Frau seines verstorbenen Bruders.
Die Mutter des kleinen Jungen.
Eine Witwe.
Ihr Alleinsein bekam plötzlich einen grausamen, endgültigen Sinn.
Während der Vater die Umzäunung an den beiden gepflegten Gräbern mit den Namen „Alexander“ und „Alissa“ in Ordnung brachte, schlenderte Maxim über die schmalen Wege.
Er fürchtete Friedhöfe nicht, oft hatte er mit seinem Vater die Mutter besucht.
Auch jetzt sprach er innerlich mit ihr: „Mama, hilf mir. Zeig mir, was ich tun soll.“
Da fiel sein Blick plötzlich auf zwei schlichte, aber saubere Grabsteine in der Nähe.
„Polina“ und „Gennadi“.
Genau die.
Nachname und Vatersname stimmten überein.
Offensichtlich kümmerte sich jemand um die Gräber.
Maxims Herz begann wild zu schlagen.
Ein Sonnenstrahl, der durch die dichten Tannenzweige brach, fiel direkt auf den grauen Stein.
Und der Junge verstand plötzlich.
Er begriff, was er zu tun hatte.
Er schaute sich um, der Vater war weit weg.
Unter dem Hemd zog er das Kreuz seiner Mutter hervor.
Warm, fast lebendig von seiner Haut.
Das Kostbarste, was er besaß.
Die einzige Verbindung zu jener glücklichen Welt, die längst vergangen war.
Er beugte sich hinunter und legte das Kreuz am Sockel des Polina-Grabes nieder.
— Verzeiht ihr, — flüsterte er, und seine Stimme bebte. — Vergebt Tante Tanja.
Sie wollte niemandem schaden.
Sie leidet so sehr.
Das hier ist mein Opfer.
Das Wertvollste, was ich habe.
Meine Mama.
Sie war die Güte selbst, und sie ist auch gestorben.
Ich vermisse sie unendlich.
Und Tante Tanja vermisst sie auch.
Sie ist völlig allein.
Nehmt dieses Kreuz und hebt den Fluch auf.
Bitte.
Keine Antwort kam.
Nur der Wind rauschte in den Tannen.
Doch in seiner Seele wurde es eigenartig ruhig.
— Max, ich muss dir etwas erzählen, — sagte der Vater und legte ihm die Hand auf die Schulter, als sie schon wieder unterwegs waren. — Ich habe eine Frau kennengelernt.
Sie heißt Nadeschda.
Wir… haben geheiratet.
Sie möchte dich unbedingt kennenlernen.
Für Maxim brach die Welt erneut zusammen.
Diesmal endgültig.
Stumm nickte er, schluckte die Tränen hinunter und brachte ein gepresstes: „Toll“ hervor.
Tante Nadja, wie er sie nun nennen sollte, war das völlige Gegenteil von Tatjana — fröhlich, geschäftig, mit süßer Stimme.
Sie überschüttete ihn mit Geschenken, wollte ihn ständig umarmen, doch ihre Berührungen wirkten aufdringlich und fremd.
Immer wieder vergaß sie, dass er keine Eier aß, und war beleidigt, wenn er ihre Omeletts ablehnte.
— Aber das gibt’s doch nicht! Ich habe mir solche Mühe gegeben, extra Pilze und Kräuter dazugetan!
— Ich esse keine Eier! — wiederholte er ständig und fühlte sich dabei schuldig.
— Ach ja, entschuldige, Liebling, das habe ich vergessen!
Doch am nächsten Tag geschah es wieder.
Zwei Monate später, als der erste feine Schnee gefallen war, setzten sie ihn aufs Sofa und verkündeten strahlend:
— Du bekommst ein Schwesterchen!
Maxim begriff sofort.
Seine schlimmsten Befürchtungen wurden Wirklichkeit.
Hier war er nicht mehr von Bedeutung.
Er zwang sich zu einem Lächeln und sagte: „Super! Kann ich mir dann zum Geburtstag ein Kätzchen wünschen?“
— Ein Kätzchen? — rief Nadeschda empört. — Lauter Bakterien! Dein Vater hat außerdem eine Allergie!
Der Vater zuckte entschuldigend mit den Schultern.
Der Versuch war gescheitert.
Zu seinem Geburtstag bekam er ein neues Handy geschenkt.
Er tat so, als sei er begeistert.
Doch das beste Geschenk war das Paket von Tante Tanja.
Darin befand sich das erste Harry-Potter-Buch.
Sein Vater meinte, es sei noch zu früh dafür, aber Maxim war vor Freude außer sich.
Er verschlang das Buch in zwei Tagen und verlangte sofort das nächste.
„Zu Weihnachten werden wir es kaufen“, versprach Nadschda. „Ein wunderbares Geschenk!“
In diesem Moment kam Maxim ein Gedanke.
Tante Tanja hatte all die Jahre an ihn gedacht und ihm Geschenke geschickt.
Und sie? Hatten sie jemals auch nur einmal an sie gedacht?
„Papa, wann hat Tante Tanja Geburtstag?“
„Äh, hm…“ — der Vater überlegte. „Ich glaube, am fünften Dezember. Wir sollten ihr eine Karte schicken.“
Aber Maxim wollte keine Karte.
Er hatte bereits einen Plan ausgeheckt.
Er handelte wie ein echter Spion.
Mit Hilfe seines Klassenkameraden Ljocha, einem erfahrenen Busreisenden, zog er die Bankkarte seines Vaters, während die Eltern zu Abend aßen, und kaufte online zwei Tickets nach Alexandrowka — für sich und seinen Vater (die Daten wurden automatisch ausgefüllt).
Er druckte sie aus und löschte die E-Mail.
Auf dem Vogelmarkt nahm er von einem alten Mann mit Fellmütze ein kleines rötliches Kätzchen kostenlos, das Ljocha zustimmte, eine Nacht lang zu behalten.
Am Morgen des fünften Dezember tat Maxim so, als würde er zur Schule gehen, nahm das Kätzchen und machte sich auf den Weg zum Bahnhof.
Sein Herz schlug wie verrückt.
Die Kontrolleurin fragte: „Und wo sind deine Eltern?“
„Da drüben, mein Papa, in der Menge, den werde ich noch erwischen!“ — log er und schlüpfte in den Bus.
Es war die furchterregendste, aber auch aufregendste Reise seines Lebens.
In Alexandrowka lag bereits Schnee.
Das Kätzchen unter seiner Jacke miaute traurig.
Eine freundliche Frau wies ihm den Weg.
Als er das vertraute Haus erblickte, stockte Maxim der Atem.
Und wenn sie böse wird? Und wenn sie ihn rauswirft?
Doch als Tante Tanja die Tür öffnete, verhärtete sich ihr Gesicht nicht.
Zuerst wirkte sie ängstlich, dann verlegen, und schließlich strahlte sie vor so echter Freude, dass Maxim beinahe zu weinen begann.
„Maxim! Mein Gott! Wie bist du alleine hierher gekommen? Du bist ganz eingefroren! Komm rein!
Ich rufe sofort deinen Vater an! Das… das was ist das?“ — fragte sie und schaute auf das kleine Bündel, das sich an seiner Brust bewegte.
„Für dich. Ein Geschenk. Alles Gute“, flüsterte er heiser.
Sie standen schweigend da und sahen einander an.
Und plötzlich flüsterte Tante Tanja:
„Ich habe kürzlich Polina im Traum gesehen. Im Traum lächelte sie und winkte mir zu. Und trotzdem habe ich Angst… ich kann nicht…“
Maxim lächelte breit, ohne dass ihn noch jemand drücken musste.
„Aber ich bin am Leben. Und ich liebe dich sehr. Das weiß ich.“
Das Gesicht von Tatjana Matwejewna verzerrte sich vor Emotion, ihre Lippen zitterten.
Sie nahm das Kätzchen mit einer Hand und umarmte Maxim mit der anderen fest, mit mütterlicher Zuneigung.
„Rötchen…“ — flüsterte sie und streichelte die Katze. „Danke, mein Kind. Danke.“
Der Vater schimpfte natürlich mit ihm, doch in seinen Augen lag nicht so sehr Zorn, sondern eher eine geheime Anerkennung.
„Ein echter Mann wächst heran“, sagte er zu Nadschda, im Glauben, Maxim schlafe.
„Er hat alles klug durchdacht. Ich werde ihm erlauben, in den Winterferien zu Tante zu gehen. Um Rötchen zu besuchen.“
„Aber wie kannst du das zulassen! Er muss bestraft werden!“ — reagierte die Stiefmutter empört.
„Er ist mein Sohn, Nadja. Und er hat getan, was er für richtig hielt.
Für wen? Für seinen eigenen Menschen. Unsere Tochter wird den besten Bruder der Welt haben.“
Er schlief in seinem Bett ein und hielt in der Hand ein neues, noch unbekanntes Bild — das Gesicht der Mutter, die nicht gegangen war, sondern zum Schutzengel geworden war, und das der Tante, deren gefrorenes Herz endlich erwärmt worden war.
Und er wusste, dass irgendwo dort, unter dem kalten Stein des Dorffriedhofs, das Kreuz seiner Mutter lag — der kostbarste Preis für das Wertvollste auf der Welt: das Recht, zu lieben und geliebt zu werden.
Und das war das fairste Geschäft seines Lebens.