Du bist doch meine Frau und keine fremde Tante! Also musst du meinen Angehörigen helfen!“ – erklärte mir mein Mann eine Woche vor unserem Jahrestag

Die Junisonne flutete die geräumige Küche mit Licht, während Anna gemächlich den morgendlichen Kaffee zubereitete.

Der Schaum stieg in der Kanne auf, und in der ganzen Wohnung verbreitete sich das intensive Aroma des frisch gebrühten Getränks.

Igor erschien in der Tür und knöpfte beiläufig sein Hemd zu.

— Guten Morgen! Es duftet einfach wunderbar!

Anna goss den Kaffee in die Tassen, wohl wissend, dass ihre Fähigkeit, den perfekten Kaffee zu kochen, eine der Dinge war, die Igor besonders an ihr schätzte.

— Wie hast du geschlafen? — Sie stellte ihrem Mann eine Tasse hin und setzte sich neben ihn.

— Hervorragend. Übrigens, meine Mutter hat gestern angerufen, als du nicht da warst.

Anna nahm einen Schluck und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Anrufe ihrer Schwiegermutter verhießen selten etwas Angenehmes.

— Ist etwas passiert?

— Nein, nichts Besonderes. Sie wollte nur wissen, ob du sie morgen zur Poliklinik fahren kannst. Sie hat um neun Uhr einen Arzttermin.

Anna erstarrte mit der Tasse in der Hand. Am nächsten Tag hatte sie eine wichtige Präsentation für Kunden, an der sie zwei Wochen gearbeitet hatte.

— Igor, das ist unmöglich. Du weißt doch von meiner Präsentation.

— Ach, Anna, es geht um meine Mutter, — Igors Stimme nahm einen vorwurfsvollen Ton an. — Sie bittet nicht oft um Hilfe. Kannst du ihr wirklich nicht diesen Gefallen tun?

— Wie wäre es mit einem Taxi? Oder Lena? Sie hat doch Zeit.

— Lena ist mit den Kindern beschäftigt, und ein Taxi… Warum unnötige Ausgaben, wenn die Familie helfen kann?

Anna atmete tief durch. Solche Gespräche wurden immer häufiger. Zuerst waren es nur Kleinigkeiten – Medikamente besorgen, beim Putzen helfen, zur Datscha fahren. Doch nach und nach wuchs es zu einem Berg an Erwartungen.

— Gut, ich versuche, das Meeting zu verschieben, — sagte sie schließlich, obwohl sich in ihr alles dagegen sträubte.

— Na also, wunderbar! — Igor lächelte erleichtert. — Ich bin so froh, dass ich eine verständnisvolle Frau habe. Du weißt eben, wie wichtig Familie ist.

Das Wort „Familie“ sprach er mit besonderer Wärme aus. Von Anfang an hatte er betont, wie wichtig es sei, den Liebsten nah zu sein und sie in schwierigen Zeiten zu unterstützen.

Am selben Abend rief Lena, Igors Schwester, an.

— Annuschka, Liebes, könntest du am Samstag auf die Kinder aufpassen? Mein Mann und ich wollten schon lange ins Theater gehen, die Karten sind schon gekauft.

Anna hatte eigentlich vor, ihre Eltern zu besuchen. Ihre Mutter hatte sie schon lange zum Mittagessen eingeladen.

— Lena, tut mir leid, aber wir hatten geplant, meine…

— Ach komm schon, deine Eltern können doch warten! — Lenas Stimme klang fordernd. — Bitte, ich frage doch nicht oft! Die Kinder lieben dich!

Anna blickte unwillkürlich auf den Kalender. Seit einem Monat hatte sie ihre Eltern nicht gesehen.

— In Ordnung, — gab sie schließlich nach.

Als Igor am Abend nach Hause kam, erzählte Anna ihm von dem Gespräch mit seiner Schwester.

— Gut gemacht, dass du zugesagt hast, — lobte er. — Lena braucht wirklich eine Pause, sie ist den ganzen Tag mit den Kindern beschäftigt.

— Und ich etwa nicht? — fragte Anna leise.

— Ach komm, du verbringst doch den ganzen Tag im Büro. Das ist etwas völlig anderes.

Anna schwieg. Diskutieren war sinnlos.

Eine Woche später rief ihr Schwiegervater, Viktor Michailowitsch, an.

— Annuschka, hör mal… Mein Auto ist kaputt, aber ich brauche es dringend. Könntest du mir deins für ein paar Wochen leihen?

Anna war sprachlos. Ohne Auto würde ihr Alltag fast unmöglich werden – ihre Arbeit erforderte ständige Fahrten quer durch die Stadt, dazu Kundentermine.

— Viktor Michailowitsch, ohne Auto schaffe ich das nicht. Mein Zeitplan ist zu eng…

— Ach komm, du bist doch noch jung! Ein paar Mal mit der Metro fahren ist doch kein Problem! — lachte der Schwiegervater gutmütig. — Wir sind doch eine Familie, da hilft man sich doch gegenseitig.

Später kam es zu einem weiteren Gespräch mit Igor.

— Igor, aber wie soll ich ohne Auto arbeiten? Ich habe Meetings, Präsentationen…

— Anna, das ist doch nur vorübergehend. Papa braucht es wirklich dringend. Und außerdem, er hat recht – für die Familie kann man sich doch mal einschränken.

Anna bemerkte immer öfter, dass ihr Leben zu einer endlosen Reihe von Zugeständnissen wurde. Jedes Mal, wenn sie versuchte, „Nein“ zu sagen, erinnerte man sie daran: „Wir sind doch eine Familie.“

Die größte Herausforderung kam mit ihrer Beförderung. Sie hatte lange auf diese Position hingearbeitet, viel gelernt, hart gearbeitet. Endlich wurden ihre Mühen belohnt – sie wurde zur Abteilungsleiterin befördert.

Voller Freude teilte sie Igor die Neuigkeit mit:

— Stell dir vor, jetzt können wir unseren lang gehegten Traum verwirklichen! Erinnerst du dich? Unsere Reise nach Europa?

Igor lächelte seltsam.

— Weißt du, da ist eine Sache… Mama und Papa wollen ihre Küche renovieren. Und Katja heiratet bald…

Anna erstarrte. Wieder einmal waren die Verwandten wichtiger als ihre gemeinsamen Pläne.

— Und? — fragte sie vorsichtig.

— Naja, sie brauchen finanzielle Unterstützung. Und jetzt, wo dein Gehalt gestiegen ist…

Anna konnte ihren Ohren nicht trauen:

— Du schlägst also vor, dass ich mein Geld für eine Renovierung und eine Hochzeit ausgebe?

Igor zuckte nur mit den Schultern.

— Warum denn nicht? Wir sind doch alle eine Familie.

Anna sah ihren Mann an, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen. Seit wann war seine Familie wichtiger als ihre eigene?

Den ganzen Abend kreisten ihre Gedanken darum, wie sie einst gemeinsam davon geträumt hatten zu reisen, eine Zukunft aufzubauen. All diese Pläne lösten sich auf in den endlosen Forderungen seiner Verwandten.

— Wir müssen ernsthaft reden, — sagte Anna entschlossen und betrat das Zimmer, in dem Igor in eine Fernsehsendung vertieft war.

— Worum geht’s? — Er machte sich nicht einmal die Mühe, den Blick vom Bildschirm zu lösen.

— Um unsere Beziehung. Um Geld, um unsere Zukunftspläne.

Igor schaltete widerwillig den Fernseher aus.

— Warum bist du so aufgebracht? Das ist doch ganz normal. Die Familie braucht Unterstützung.

— Nein, das ist nicht normal, — Anna setzte sich auf die Kante des Sessels. — Das ist mein Geld, Igor. Verdient durch meine harte Arbeit. Ich habe so viel gearbeitet, mich auf diese Beförderung vorbereitet.

— Und was jetzt? Willst du jetzt alleine über unser gesamtes Einkommen bestimmen? — Igor sprang abrupt auf. — Du hast dich verändert, Anja. Früher warst du anders. Jetzt denkst du nur noch an dich selbst.

Diese Worte trafen sie mitten ins Herz. Anna ballte die Fäuste.

— Ich denke an uns, — ihr Stimme klang fester, als sie erwartet hatte. — An die Pläne, die wir gemeinsam gemacht haben. An die Reisen, die wir uns gegenseitig versprochen haben.

— Wann willst du denn Zeit zum Träumen finden? — Igor winkte ab. — Katies Hochzeit steht bevor. Und meine Eltern renovieren das Haus.

— Und was ist mit unserer Familie? Mit unseren gemeinsamen Träumen?

— Hör auf! — Igor erhob die Stimme. — In einer normalen Familie hilft die Ehefrau den Verwandten ihres Mannes. Das ist selbstverständlich und richtig.

Die Tage nach diesem Gespräch wurden zu einem endlosen „stillen Krieg“. Anna verließ das Haus früh morgens und kam spät zurück, wenn bereits Dunkelheit eingekehrt war. Igor ignorierte sie demonstrativ.

Auch seine Mutter, Nina Pawlowna, hielt sich nicht zurück. Jeden Tag rief sie ihren Sohn an und machte ihrer Schwiegertochter lautstark Vorwürfe über das Telefon.

— Deine Frau ist völlig außer Kontrolle geraten, — klagte sie. — Zu meiner Zeit hätte sich niemand so verhalten. Wir wussten, wo unser Platz war.

Anna tat so, als würde sie diese Gespräche nicht hören. Sie stürzte sich immer mehr in die Arbeit. Neue Projekte forderten ihre volle Aufmerksamkeit, aber im Büro wurde sie für ihre Professionalität geschätzt, nicht für angeblichen Egoismus.

Ihr fünfter Hochzeitstag rückte näher. Anna hoffte, dass dieser Tag eine Wende bringen könnte. Vielleicht würde Igor sich erinnern, wie glücklich sie einmal zusammen waren. Wie sie sich gegenseitig unterstützt hatten.

Doch als sie am Abend nach Hause kam, fand sie ihren Mann am Küchentisch sitzend. Die Arme vor der Brust verschränkt, der Gesichtsausdruck angespannt.

— Ich habe nachgedacht, — begann er mit einem schweren Seufzen.

Anna blieb in der Tür stehen. Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran: Dieses Gespräch würde schwierig werden.

— Natürlich hast du das Recht auf deine eigene Meinung, — fuhr Igor fort, — aber du musst eine einfache Sache verstehen. In einer Familie unterstützt man sich gegenseitig.

Er machte eine Pause, als wolle er ihr die Gelegenheit geben, zu widersprechen. Doch Anna schwieg und wartete auf seine Fortsetzung.

— Meine Mutter hat ihr ganzes Leben für mich gegeben, — seine Stimme wurde lauter, voller Emotionen. — Schlaflose Nächte, wenn ich krank war. Drei Jobs, um mir eine Ausbildung zu ermöglichen. Was kann ich jetzt für sie tun, wenn nicht helfen?

Igor sprach immer schneller, als versuche er, nicht nur seine Frau, sondern auch sich selbst zu überzeugen.

— Und Katja? Sie ist zwanzig. Eine Hochzeit ist ein bedeutender Moment im Leben. Wie könnten wir da nicht helfen? Und wir haben doch genug. Wir leben im Wohlstand.

Jedes seiner Worte traf sie wie ein Schlag. Anna spürte, wie in ihr eine Welle aus Enttäuschung und Unverständnis aufstieg.

— Du bist doch meine Frau, keine Fremde! — beendete er seine Rede und schlug mit der Hand auf den Tisch. — Also bist du verpflichtet, meiner Familie zu helfen!

In diesem Moment zerbrach etwas in ihr. Sie sah ihren Mann an und erkannte ihn nicht wieder. Wo war der Igor, der einst gesagt hatte, dass sie beide zusammen eine vollwertige Familie seien?

Vor ihr saß ein anderer Mann. Für ihn war sie keine Partnerin, keine Geliebte – sondern nur eine Ressource für seine Verwandten.

In ihrem Gedächtnis tauchten Bilder der Vergangenheit auf: abgesagte Treffen mit ihren Eltern, Wochenenden, die sie damit verbracht hatte, ihrer Schwiegermutter zu helfen, geliehenes Geld, ohne jede Hoffnung auf Rückzahlung.

Endlose Zugeständnisse und Kompromisse, die scheinbar niemals endeten.

Anna ließ sich langsam auf einen Stuhl sinken. Sie sah ihren Mann an und versuchte zu begreifen – wann hatte sich alles verändert?

In welchem Moment hatte sie zugelassen, dass sie nur noch ein bequemes Element in seinem Leben war?

Sie atmete tief ein und hob den Blick.

„Ich bin deine Frau, aber keine kostenlose Geldquelle für deine Verwandten“, sagte sie mit kühler, fester Stimme.

Igor verdrehte die Augen.

„Schon wieder dasselbe. Du denkst nur an Geld. Es ist der einzige Sinn deines Lebens“, sein Tonfall war voller Verachtung.

In dieser Nacht fand Anna keinen Schlaf. Sie lag da, starrte an die Decke und erinnerte sich an alles: die ersten Dates, den Heiratsantrag, die Hochzeit. All diese Erinnerungen schmeckten nun bitter.

Wie war aus warmen Gefühlen eine ständige Pflicht geworden? Jeden Tag neue Forderungen. Zeit, Mühe, Geld – alles zerrann ihr zwischen den Fingern, und anstatt Dankbarkeit gab es nur Vorwürfe.

Am Morgen stand Anna früher auf als sonst. Sie holte einen großen Koffer hervor, begann, ihre Sachen und Dokumente einzupacken. Igor beobachtete sie mit einem spöttischen Lächeln.

„Was für eine Show ist das jetzt?“ fragte er, während er sich an den Türrahmen lehnte. „Willst du mir deinen Willen zeigen?“

„Ich gehe“, antwortete sie ruhig und schloss die Kofferschlösser.

Ihr Mann lachte.

„Du bist einfach launisch. Glaubst du wirklich, ich nehme das ernst?“

Anna nahm wortlos den Koffer und ging an ihm vorbei zur Haustür. Für einen kurzen Moment flackerte Überraschung in Igors Augen auf.

„Du tust das wirklich?“ Seine Stimme zitterte leicht.

Eine Stunde später öffnete sie die Tür zu ihrer alten Wohnung – einer kleinen Einzimmerwohnung, die sie einst zum Vermieten gekauft hatte.

Nun erschien ihr dieser Ort wie ein wahres Refugium. Hier würde niemand etwas von ihr verlangen, sie verurteilen oder ihr Vorhaltungen machen.

Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich frei. Keine Rechenschaft mehr über jeden Cent. Keine Opfer mehr für die Bedürfnisse anderer. Einfach nur leben.

Die Tage vergingen, wurden zu Wochen, die Wochen zu Monaten. Anna vertiefte sich völlig in ihre Arbeit, traf sich mit Freunden und begann mit Sport. Ihr Leben bekam wieder neue Farben.

Igor tauchte nach drei Monaten auf. Es war spät am Abend, als das Telefon klingelte.

„Lass uns treffen und reden“, seine Stimme klang sanft, fast flehend. „Ich habe alles verstanden. Ich verspreche, mich zu ändern.“

Anna lächelte, während sie auf das Telefon blickte.

„Zu spät“, sagte sie leise. „Viel zu spät.“

Igor hatte das Wesentliche nicht begriffen: Nicht ihre Weigerung, seiner Familie zu helfen, hatte ihre Beziehung zerstört.

Das Problem war, dass sie in seinen Augen längst aufgehört hatte, eine eigenständige Person zu sein. Sie war nur noch eine Funktion, ein Teil seines Lebens.

Sogar ihr fünfter Hochzeitstag war unbemerkt vergangen. Igor hatte das Datum vergessen, und für Anna war das ein weiteres Zeichen.

Sie verbrachte den Tag mit Arbeit und machte abends einen Spaziergang an der Uferpromenade. Der Wind spielte mit ihren Haaren, die Sonne versank langsam am Horizont.

Seltsamerweise verspürte sie keine Traurigkeit, sondern Erleichterung. Als hätte sie einen schweren Rucksack von den Schultern abgeworfen.

Ab jetzt gehörte dieses Leben nur ihr. Sie musste nicht mehr bequem sein – es reichte, glücklich zu sein.

Anna nahm ihr Handy und öffnete die Website einer Fluggesellschaft. In einer Woche begann ihr Urlaub.

Es war an der Zeit, sich ihren lang gehegten Traum von einer Reise durch Europa zu erfüllen. Selbst wenn sie allein war – es würde nach ihren eigenen Regeln geschehen.